Traktorüberschlag Visionen Tag des Bio-Landbaus

Tag des Bio-Landbaus – Visionen in Radenthein

Organic

Für Lebewesen, Dinge und Philosophien, die unterm Jahr ein gewisses Maß an Missachtung erleiden, werden „Tage“ ins Leben gerufen, um Visionen zu formulieren. Zum Beispiel Muttertag, Tag der Toleranz und seit heuer auch ein Tag des Bio-Landbaus. Dieser wurde interessanterweise in Wien bereits am 28. September zelebriert, während ihn Kärnten erst am 25. November 2017 feierte.

Radenthein: Bio-Käse statt Magnesit

Radenthein liegt am nordöstlichen Ende des Millstädtersees. Dem Ort eilt ein legendär grauer Ruf voraus. In zweifacher Hinsicht, denn der Magnesitabbau soll einst das gesamte Gebiet grau staubgrundiert haben, während der monatelange Nebel oberflächlich schlechte Stimmung verbreitet haben soll. Gut, den Nebel gibt es auch heute noch, ansonsten erfreut neuerdings unter anderem die feine, kleine Bio-Käserei Kaslabn Geist und Körper. Der Rathaussaal des Bergbau(ern)ortes liegt nur einen Steinwurf von Käserei und Käselager entfernt. Kaslabn und der Saal gaben der Kärntner Huldigung des Bio-Landbaus einen Ort. Ich wurde zu einem Vortrag geladen: „Warum KonsumentInnen (nicht) Bio kaufen“.

Lebensleistung mit Traktorüberschlag

Selbstverständlich bin ich mit dem Zug nach Kärnten gefahren. Mit der Konsequenz schon am Vortag angereist sein zu müssen, um in der Früh rechtzeitig da zu sein. Dies gab mir die willkommene Gelegenheit, wieder einmal zur Familie Ertl in Oberndorf bei Spittal zu kommen. „Ein Bio-Bauernhof der ersten Stunde, an dem die Kühe so entspannt wie hochleistend sind, so wie die Familie“, ist nicht von mir, aber ein sehr treffender Befund für diesen Ausnahme-Biobetrieb. Mit dem in diesem Jahr zum Altbauern aufgestiegenen Martin durfte ich noch am Abend in den Rinderstall gehen, zum Gute-Nachtsagen. Dann wurde noch ausführlich der Traktorüberschlag diskutiert, den Jungbauer Paul vor Kurzem glücklicherweise fast unverletzt überlebt hatte. „Tag des Bio-Landbaus: Wir drehen alles auf den Kopf“ wäre uns dabei als ein (an)griffiger Tagungstitel eingefallen.

Martin Ertl Visionen Tag des Bio-Landbaus Lebensleistungszucht Holstein Friesian

Bio-Bauer Martin Ertl mit einer seiner herausragenden Lebensleistungskühen (bei einem Fotoshooting im Sommer 2016). (c)Gessl organic17

Etwa 60 Interessierte folgten also dem Ruf von Bio Austria Kärnten und LFI, fast alles Bio-Bauern und Bio-Bäuerinnen, ergänzt um einzelne überzeugte Bio-Konsumentinnen. Um sich drei Vorträge zu „Herausforderungen und Visionen“ des Bio-Landbaus anzuhören. Das ist doch ein bisserl bescheiden.

Leise Visionen

Bei einem „Tag der Bio-Landwirtschaft“ stelle ich mir eine große, breitenwirksame Initiative vor, die die Leistungen für die Gesellschaft feiert und verständlich darstellt. Vielleicht auch ein Fest oder einen Festakt mit Trara. Bio gibt sich allerdings pragmatisch bescheiden. Von den acht Millionen ÖsterreicherInnen mit ihren über 22.000 Bio-Bauern konnten am „Feiertag“ gerade einmal sechzig zu einer Vortragsveranstaltung angesprochen werden. Die Wirkkraft der Ideologie und der Führungspersönlichkeiten reicht offenbar nicht, erweiterte Teile der Bevölkerung anzusprechen. Das finde ich sehr schade, denn die Bio-Landwirtschaft hätte bei breiter Umsetzung für ein besseres Klima, ein reineres Wasser, mehr Biodiversität oder auch mehr Tier- und Pflanzenwohl enormes Potenzial.

Bei der Breitenwirksamkeit schwächelt Bio leider noch ziemlich. Die Bio-Flächen haben an den weltweiten Agrarflächen gerade einmal einen Anteil von ein Prozent. In Österreich liegt der Marktanteil von Bio bei den Frischeprodukten unter 10 Prozent. Dabei ist Österreich ein europäisches Bio-Musterland.

Nicht einmal Bio kauft Bio!

Die niedrige Kaufbereitschaft für Bio wurde auch in Radenthein ernüchternd bestätigt. Meinen Vortrag leitete ich mit der Frage an das 100 %ige Bio-Publikum ein: „Wer von Ihnen hat in seinem/ihrem Haushalt mehr als 70 % Bio-Lebensmittel?“ Hier meldete sich etwa 1/3 der Personen. „Und wer zwischen 30 und 70 Prozent?“ Hier waren es etwa 10 Prozent. Mein Erstaunen war so groß, dass ich die Frage vereinfacht noch einmal stellte: „Wer von Ihnen hat 30-100 % der Lebensmittel in Bio zu Hause?“ Auch hier blieb die Zustimmung unter 50 %. Wer, wenn nicht die Bio-BäuerInnen und Bio-Bauern müssten um die elementaren Mehrwerte von Bio Bescheid wissen und liebend gerne und selbstverständlich überwiegend Bio kaufen – und dabei den notwendigen Mehrpreis für den Mehrwert bezahlen? Dass dem nicht so ist, gab mir sehr zu denken, ob die jahrelang verfolgten Bio-Kommunikationsstrategien überhaupt von irgendjemandem sinnerfassend gelesen werden können.

Von den inhaltlich hochspannenden Vorträgen vom Jung-Biobauern Paul Ertl zu „Bio? Logisch! Herausforderungen und Visionen“ und der Geologin Heike Egner von der Alpe Adria Universität Klagenfurt zum Thema „Wasser + Boden = Leben“ gäbe es einiges zu erzählen.

Visionen konkret: Bio-Käserei Kaslabn

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Die Bio-Käserei Kaslabn in Radenthein ist ein Musterbeispiel an bäuerlichen Visionen: Idee, Finanzierung und Umsetzung. (c) Gessl organic17

Sehr beeindruckt hat zum Abschluss des Tagungstages die Führung durch die Kaslabn. Die Kleinkäserei wurde von mutigen, engagierten Bio-BäuerInnen ins Leben gerufen und genossenschaftlich organisiert vorfinanziert. Derzeit werden jeden Tag in Summe 6000 Liter Kuh- und Ziegenmilch von Bio-Heumilchbetrieben der Umgebung zu exquisiten Käsespezialitäten verarbeitet. „Gegen das Graue in Radenthein und überhaupt!“. Das ist eine schöne Vision, der wahrscheinlich alle folgen können. Jetzt fehlt nur noch, dass wenigstens die Bio-BäuerInnen mit gutem Beispiel vorangehen, und überwiegend Bio kaufen. Ich könnte ja nächstes Jahr wieder einen Vortrag halten – vor deutlich mehr Interessierten. Mit dem geheimnisumwobenen Titel „Warum Bio-BäuerInnen Bio kaufen“.

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Das „Goldlager“ der Kaslabn in Radenthein. Der Reiferaum mit Hart- und Schnittkäselaiben aus Kuh- odervZiegenmilch von Bio-Heumilchbetrieben der Region. (c) Gessl organic17

Beitrag von

Reinhard Geßl
Reinhard Geßl
Mein Herz schlägt beruflich seit 25 Jahren für eine ökologisch-tiergerechte Landwirtschaft. Die Zukunft der Landwirtschaft kann nur so aussehen! Ich sehe es als meine Berufung, ProduzentInnen und KonsumentInnen zusammen zu bringen.