Im Jahr 2003 beschloss die Regierung unter Chief Minister Shri Pawan Chamling, den zweitkleinsten indischen Bundesstaat Sikkim zum Bio-Land umzugestalten. Mit Ende Dezember 2015 wurde der letzte Schritt erreicht: Die gesamte Landwirtschaft im östlichen Himalaya-Bundesstaat ist seither bio-zertifiziert.
Freiwillig zu 100% Bio
Im Gegensatz zu Kuba, dem in den 1990-iger Jahren mit der Sowjetunion der Erdölzulieferer wegfiel und das daraufhin gezwungenermaßen auf Biolandbau umstellen musste, entschied sich Sikkim freiwillig zum Verzicht auf alle chemisch-synthetische Spritz- und Düngemittel. Und zwar aus Umweltschutzgründen. In der historischen Erklärung von 2003 wird auf die Gefährlichkeit von chemisch-synthetischen Stoffen auf das gesamte Ökosystem hingewiesen und die Ambootia Tea Estate als positives Gegenbeispiel angesprochen. Dem langjährigen Politiker Chamling war es wichtig, Sikkim vor den negativen Auswirkungen der Chemielandwirtschaft zu bewahren. Und damit Schönheit der Landschaft, Sauberkeit von Wasser und Luft und Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten.
Sikkim reduzierte Chemie schrittweise
So erzählte es uns sein langjähriger Weggefährte und Principal Director cum Secretary des Gartenbau-Ministerium Shri Khorlo Bhutia. Der bei uns etwa einem Sektionschef entsprechende, begeisternde Herr kam auf einen Sprung in unserem Hotel vorbei, das zufälligerweise seiner Nichte gehört. Er wies uns auf die Lösungen hin, die sich Sikkim im langjährigen Action Plan verordnete: „Wir nahmen die erlaubte Menge an Dünge- und Spritzmitteln schrittweise zurück: Jedes Jahr zehn Prozent weniger. 2011/12 begannen wir dann damit, die landwirtschaftlichen Flächen schrittweise bio-zertifizieren zu lassen.“ Im Jänner 2016 konnte der indische Premierminister Shri Narendra Modi verkünden, dass Sikkim der erste Bio-Bundesstaat Indiens – und der Welt – ist!
Nun Ausbildung und Kompostplätze
Doch die Verantwortlichen in Sikkim wussten: Alleine das Verbieten von chemisch-synthetischen Hilfsmitteln reicht nicht aus, um nachhaltige Landwirtschaft zu betreiben. Daher beschlossen sie ein umfassendes Programm zur Ausbildung von Bauern in ökologischem Landbau. Mister Bhuthia ergänzt: „Die Regierung stellt den Landwirten alle benötigten Hilfsmittel gratis zur Verfügung. Wir haben seit Programmbeginn über 10.000 Kompost- und Vermikompostplätze gebaut und die Bauern gelehrt, wie sie aus heimischen Kräutern Pflanzenschutzmittel herstellen können. In Zukunft soll jeder Betrieb außerdem eine Kuh halten, um den ganz wichtigen Kuhkompost herstellen zu können. Wir fördern die Kosten jeder Kuh zu 30 Prozent.“
Permakultur mit Vielfalt
Warum nur eine einzige Kuh? Das bergige Sikkim besitzt keinerlei ebenen, maschinengerechte Flächen. Um langfristig Landwirtschaft an den Steilhängen zu betreiben, haben die Bauern in der Vergangenheit Terrassen angelegt. Die durchschnittliche Betriebsgröße beträgt um die ein Hektar, mehr als zwei Hektar sind die Ausnahme. Auf diesen Kleinstflächen sahen wir eine erstaunliche Vielfalt in beeindruckender Permakultur: Ingwer oder Gelbwurz zwischen Mais, an den Terrassenstufen Bananen oder Besenhirse, je nach Höhenlage Kartoffeln, Broccholi, Bittergurken oder Bohnen. Kein Fleckchen bleibt in diesem Land ungenutzt, überall grünt und wächst es. Bäuerinnen verwerten selbst Bananenstämme oder Maisstängel und Blätter aus den subtropischen Wäldern, schneiden sie klein und verfüttern sie ihrer Kuh.
Von Tiefland bis zum dritthöchsten Berg der Welt
Die Vielfalt der Betriebe und der Produkte erklärt sich aus der Landschaft Sikkims. Von Süd nach Nord schwingen sich die Hügel immer höher hinauf, bis Kangchendzönga und andere Gipfel den Abschluss zu Tibet hin bilden. In den „Lower Hills“ von 300 bis 900 Meter Seehöhe gedeihen neben Hirse, Weizen und Mais auch Südfrüchte wie Bananen, Guaven, Limonen und Mangos. Die „Mid Hills“ (900-1800 m SH) dienen dem Anbau von Reis, Weizen, Pfirsichen oder schwarzem Kardamom. In den „High Hills“ (1800 bis 2700 m SH) werden neben Mais und Gerste saisonale Gemüse wie Kartoffel oder Bohnen und kälteverträgliche Früchte wie Äpfel oder Birnen angebaut. Selbst in den alpinen „Very High Hills“ (4000-5000 m SH) haben wir neben Rinder- und Yakhaltung noch Kraut- und Kartoffelanbau gesehen. Dazu kommen empfindliche Gemüse wie Paradeiser oder Paprika sowie Schnittblumen, die in mittleren Lagen in Folienhäusern produziert werden.
Die Regierung ermuntert und trainiert alle Sikkimer Bauern zur dreidimensionalen Nutzung ihrer begrenzten Flächen: Je nach Höhenlage soll das Gemüse unter Orangen-, Walnuss- oder Futterbäumen wachsen. Kiwi-, Gurken- oder Chayote-Gerüste sollen Kräuter oder Gewürze überspannen. Nachdem Garten- und Landbau in den Klein(st)betrieben fast ausschließlich in Handarbeit passiert, ist diese Art der intensiven Flächennutzung möglich und notwendig. In Mazitar (Ostsikkim) haben wir dazu einen von mehreren bundesstaatlichen Betrieben besucht, und Direktor Pintso Wangyal zeigte uns stolz die 7500 Orangensetzlinge: „Die Bauern bekommen sie gratis von uns.“ Daneben stellt die Regierung auch Folientunnel, Pflanzenstärkungungsmittel oder Saatgut kostenlos zur Verfügung.
Stolz auf feine Komposterde
Im Biolandbau ist neben guter Fruchtfolge auch Aufbau und Erhalt der Bodenfruchtbarkeit von zentraler Bedeutung. Hier zeigt Sikkim einen wirklich vorbildlichen Weg vor: Jeder Betrieb soll in Zukunft einen Kompostplatz betreiben, der zur Aufwertung des Rindermists und aller pflanzlichen Abfälle – von Beikräutern bis zu Baumblättern – dient. Besonders innovative Betriebe stellen Wurmkompost her, den sie für die Gemüseproduktion einsetzen. Und Mister Wangyal zeigte uns als neueste Idee eine Art „Kompostplatz-Sack“, der günstigere Kompostplätze ermöglichen soll.
Alle Bauern wurden während der Anfangsphase der landwirtschaftlichen Umstellung speziell in Kompostwirtschaft ausgebildet. Mit Begeisterung zeigten uns Sikkimer Bauern ihre Kompostwürmer und wühlten feinste Komposterde frei. Frau Mala Sherpa in Rongbul bei Namchi (Südsikkim) erzählte uns: „Wir haben noch nie chemischen Dünger oder Spritzmittel verwendet. Der Transport hierher war immer schon zu teuer. Seit wir die Trainings besucht haben und Kompostwirtschaft betreiben, sind unsere Erträge deutlich gestiegen!“ Sie ist also sehr zufrieden mit dem Weg, den Sikkim vor 14 Jahren eingeschlagen hat.
Das sind nicht nur alle Bauern und Bäuerinnen, mit denen wir gesprochen haben. Auch andere Menschen, die ich gefragt habe – vom Hotelbesitzer über den Taxifahrer bis zur Englischlehrerin – sind stolz auf die Entscheidung, Sikkim zum Bio-Land zu machen. „Das Gemüse schmeckt einfach viel besser. Und ich weiß, dass kein Gift drinnen ist“, strich zum Beispiel die Schuldirektorin Dr. Bina Pradhan heraus. Solche und ähnliche Aussagen hörten wir immer wieder.
Um ein Viertel mehr Touristen in Sikkim Organic
Der Stolz ist nicht unberechtigt, denn ganz Sikkim profitiert von der Entscheidung zum Biolandbau. So ist der Tourismus in Sikkim – eine der wichtigsten Einkommensquellen in dieser Bergregion – in den letzten vier Jahren um 25 Prozent gestiegen. Ungefragt wiesen uns Servierkräfte oder Hoteliers darauf hin, dass das von ihnen gebrachte Essen „all organic“ sei. Stimmt zwar nicht ganz, denn die 1,5 Millionen Touristen, die die 610.000 Einwohner jährlich besuchen, können nicht alle ausschließlich mit Sikkimer Lebensmitteln versorgt werden.
Doch das ist auch nicht das Ziel der Regierung, wie Shri Khorlo Bhutia betont: „Wir wollen nicht 100 % Selbstversorgung erreichen. Wir wollen die Fruchtbarkeit unserer Böden erhalten, wir wollen sauberes Wasser und beste Luft. Und wir möchten, dass die Sikkimer Bauern mit biologisch erzeugten Produkten gutes Geld verdienen und deren Söhne weiterhin Landwirtschaft betreiben. Die komplette Selbstversorgung werden wir nie erreichen, das wissen wir!“ Dass die Richtung trotzdem stimmt, weiß der Sektionschef auch: „Wir hoffen, den One World-Award von Rapunzel im September zu bekommen. Er würde uns in unserem Weg bestärken!“
Der Sikkimer Weg zu nachhaltigem Bio-Landbau ist noch lange nicht zu Ende. In nächsten Schritten sollen Verarbeitung und Vermarktung aufgebaut werden. Derzeit verkaufen die Bauern den Großteil ihrer Produkte an lokale Händler, die sie in Indien am „normalen“, konventionellen Markt verkaufen. Ein weiterer Schwerpunkt der kommenden Jahre soll auf Tierhaltung und Futterproduktion liegen. In Sikkim ist die Schweine- und Geflügelhaltung aufgrund fehlender Futtermittel derzeit nicht bio-zertifiziert. Bei unseren Betriebsbesuchen mussten wir außerdem feststellen, dass noch viel Wissen zur tiergerechten Haltung fehlt.
Um das zu ändern, haben wir erste Schritte unternommen: Mit Hilfe von Dr. Anbalagan von der Sikkim Organic Mission trafen wir uns mit Vertretern des Department for Animal Husbandry. Sowohl bei Dr. Chettri, dem zuständigen Sektionsleiter, als auch bei seinen Mitarbeitern stießen wir auf großes Interesse an der österreichischen Bio-Tierhaltung. Es zeigt sich, dass wir mit unserem Besuch eine fruchtbringende Zusammenarbeit zwischen dem Bio-Europameister Österreich und dem Bio-Weltmeister Sikkim begonnen haben! Ganz nach dem Motto:
Sikkim | Österreich | Vorarlberg | Tirol | |
Staatsfläche (km2) | 7.096 | 83.879 | 2.601 | 12.640 |
Einwohner (Anzahl) | 608.000 | 8.773.000 | 389.000 | 746.000 |
Bevölkerungsdichte (EW/km2) | 86 | 105 | 149 | 59 |
Höhenlage von-bis (m ü.d.M.) | 280-8586 | 395-3312 | 465-3798 | |
Landwirtschaftl. Nutzfläche (ha) | 75.000 | 2.728.600 | 77.800 | 259.000 |
Landwirtschaftl. Betriebe (Anzahl) | 64.000 | 146.100 | 3.400 | 12.200 |
Fläche/Betrieb (ha) | 1,2 | 18,7 | 22,9 | 21,2 |
Beitrag von
- Ich bin Bio-Schweineexpertin, Beraterin, freie Journalistin und Hobby-Grafikerin. Meine Interessensgebiete reichen mittlerweile von Nutztierhaltung über Urban Gardening bis zum Bodenschutz. Mein Leben bleibt spannend!
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